Frédéric Page steigt von seinem Büro im Container über der Adlerstube im Brügglifeld hinunter und fragt etwas perplex: «Weshalb will ausgerechnet HEIMSPIEL einen Bericht über Union Berlin publizieren?» Page gehört neben Mario Eggimann, Daniel Wolf und Emanuel Pogatetz zu den vier Spielern, die in ihrer Karriere als Fussballer sowohl beim FC Aarau als auch bei Union Berlin unter Vertrag gestanden sind. Die Unioner sind derzeit in der deutschsprachigen Fussball-Szene in aller Munde. Der ewige Aussenseiter führt die Tabelle der Bundesliga an.
Bei allen vier ehemaligen FCA-Spielern liegt das Union-Engagement einige Jahre zurück. Bei Page sind es 19 Jahre. In der Saison 2003/04 spielte er bei Union Berlin und erlebte mit den Köpenickern den Abstieg von der 2. Bundesliga in die 3. Liga (damals Regionalliga). Es war eine ganz andere Zeit. Union Berlin torkelte von einer Krise in die andere und stieg ein Jahr darauf gar in die Oberliga ab. Page aber war inzwischen weitergezogen, spielte nach einer Saison bei Union danach zwei Saisons bei Greuther Fürth und darauf ein Jahr bei Unterhaching, bevor er ins Brügglifeld zurückkehrte. Nach zwei weiteren Saisons beim FCA (2007–2009) wechselte er zu Xamax, danach zu Lausanne und kehrte wieder zu Xamax zurück. 2013 beendete er seine Karriere als Fussballer und arbeitete danach als Geschäftsführer der «Fondation Gilbert Facchinetti» während sieben Jahren für den Nachwuchsbereich am Neuenburgersee.
Vor anderthalb Jahren kehrte er zum FC Aarau zurück, übernahm die neu geschaffene Stelle als Leiter Administration im Nachwuchs. Seit dem 1. Juli hat Page die Gesamtleitung für den Aarauer Juniorenbereich.
Kontakt zu Union nie abgebrochen
Der mittlerweile 43-jährige Page bestritt insgesamt 222 Spiele für den FC Aarau und 32 Einsätze für Union Berlin. Die Arbeit beim FCA ist eine Arbeit für die Zukunft, auch eine Arbeit an der Basis. Er zögerte einen Moment, als er gefragt wurde, in Erinnerungen zu kramen, seine Erlebnisse bei Union Berlin zu erzählen, diesem eigenwilligen, einzigartigen Verein aus der ehemaligen DDR, der seit dem erstmaligen Aufstieg in die Bundesliga 2019 für so viele positive Schlagzeilen sorgt.
Es dauerte indes nicht lange und Page ist in Gedanken zurück in seiner Berliner Zeit, die bei ihm markante Spuren hinterlassen hat. Nach seinem Abschied als Spieler hat er zwar kein Spiel mehr im legendären Stadion An der Alten Försterei erlebt. Doch der Kontakt zu Union Berlin ist nie abgebrochen. Christian Arbeit, der Geschäftsführer Kommunikation und Stadionsprecher von Union Berlin, gehörte zu seinen Hochzeitsgästen. Als Page bei Union Berlin war, wurde am 23. Dezember erstmals auf Initiative der Fans das mittlerweile legendäre Weihnachtssingen durchgeführt, an dem 89 Union-Fans teilnahmen.
«Wie die Menschen, die Fans zum Verein stehen, welche Werte sie vertreten, ist einzigartig.»
Inzwischen ist das eine Grossveranstaltung, und Page ging 2015 mit seinen beiden Kindern Lia (mittlerweile 13 Jahre alt) und Mathéo (16) in die ausverkaufte Alte Försterei zum Weihnachtssingen. Er wollte dieses Erlebnis seinen Kids nicht vorenthalten. «Wie die Menschen, die Fans zum Verein stehen, welche Werte sie vertreten, ist einzigartig», sagt Page. «Zu meiner Zeit war das Fundament von Union die grosse Solidarität und der Zusammenhalt der Fans im Verein. In den letzten Jahren hat sich Union mit Präsident Dirk Zingler weiterentwickelt. Der Verein hat Strukturen erschaffen, die nebst den erwähnten Werten eine hohe Professionalität mit sich brachten. Diese Professionalität ist der Grund für den grossen sportlichen Erfolg von Union.»
Schulden und turbulente Zeiten
Er sei nicht überrascht, dass Trainer Urs Fischer mit seiner Art bei Union Berlin Erfolg habe, «aber ich bin überrascht, dass er derart grossen Erfolg hat.» Page erlebte bei Union eine turbulente Zeit, so wie das damals bei diesem Verein üblich war. «Wir hatten eine gute Mannschaft, aber die Unruhe im Vorstand färbte sich auf das Team und alle Bereiche im Club ab.» Den Verein drückten kurzfristige Verbindlichkeiten von rund 720 000 Euro und langfristige Schulden, rund 15 Millionen Euro, beim ehemaligen Retter Michael Köhnel, der aus der Film- und Video-Branche stammte.
2003, in dem Jahr, als Page bei Union anheuerte, wurde der Unternehmer Zingler als Präsident erkoren. Heute, 19 Jahre später, ist er immer noch im Amt. Über Union Berlin, den Arbeiterverein aus der einstigen DDR, ranken sich viele Geschichten. Das Bild des benachteiligten «Underdog» während der Zeit der DDR wurde ausgiebig behandelt. Einige Geschichten entsprechen der Realität, andere nicht, wie im Buch «Wir werden ewig leben» des Journalisten Christoph Biermann nachzulesen ist. Unbestritten ist die grosse Rivalität, ja Hass der Fans zum ehemaligen Serienmeister BFC Dynamo Berlin, dessen Ehrenpräsident der einstige Stasi-Chef Erich Mielke war. Die Dominanz von Dynamo Berlin endete mit dem Fall der Mauer, dem Ende der DDR und der Stasi. Jetzt fristet Dynamo Berlin ein Dasein in der Regionalliga.
Page spielte 14 Jahre nach dem Mauerfall bei Union. Doch die alte Rivalität war noch präsent, nicht nur gegenüber Dynamo Berlin. «Mein allererstes Spiel mit Union war ein Testspiel gegen Dynamo Dresden», erinnert er sich. «Ich traute meinen Augen nicht. 500 Polizisten sicherten das Stadion ab.»
Text der Union-Hymne auswendig gelernt
Unvergessen bleibt für ihn auch, als er mit seinem Teamkollegen Steffen Baumgart, jetzt Trainer beim 1. FC Köln, zu einer Autogrammstunde gerufen wurde. Hunderte von Menschen drängten sich in ein Warenhaus in Köpenick. «Ich sagte zu Steffen, das könne doch unmöglich der Ort sein, wo wir hin müssten.» Aber sie waren am richtigen Ort. «Ich schrieb und schrieb Autogramme. Nach zwei Stunden tat mir der Arm weh. So etwas war ich mir beim FC Aarau nicht gewohnt. Da merkte ich: Wow, ich bin in einer anderen Welt.»
«Die Fans forderten uns auf, mit ihnen Schlachtrufe zu singen. Dann haben sie Wasser aus der Wuhlheide, die neben dem Stadion liegt, über uns gekippt und uns getauft. Da wusste jeder neue Spieler, was Union Berlin für die Fans hier bedeutet.»
Schon damals war die mittlerweile legendäre Hymne «Eisern Union» von Nina Hagen stets präsent. «Als Spieler durfte man sich keine Blösse geben. Wir haben den Text auswendig gelernt. Du konntest nicht einfach dastehen und stumm bleiben, wenn das ganze Stadion ‹Eisern Union› anstimmte.»
Nicht vergessen hat Page auch ein anderes Ritual. «Es war während des Trainingslagers. Da kam eine Fan-Gruppierung vorbei. Alle neuverpflichteten Spieler mussten vortreten. Die Fans forderten uns auf, mit ihnen Schlachtrufe zu singen. Dann haben sie Wasser aus der Wuhlheide, die neben dem Stadion liegt, über uns gekippt und uns getauft. Da wusste jeder neue Spieler, was Union Berlin für die Fans hier bedeutet.»
Ein Telefonanruf bei Page beendet unser Gespräch. Er ist zurück in der Gegenwart, beim FC Aarau. Page steigt die Treppe hoch und entschwindet im Container.
Vergangenheit beim FC Aarau und bei Union Berlin
- Frédéric Page (43-jährig): 222 Pflichtspiele für Aarau (1996–2003, 2007–09), 32 Spiele für Union (2003–04).
- Mario Eggimann (41): 80 Spiele für Aarau (1998–2002), 18 Spiele für Union (2013–15).
- Daniel Wolf (42): 7 Spiele für Aarau (2000–02), Athletiktrainer bei Union (2012–16).
- Emanuel Pogatetz (39): 22 Spiele für Aarau (2002–03), 17 Spiele für Union (2016–17).
Matchzeitung Nr. 9 (2022/23) lesen
Dieser Artikel ist am 4. November 2022 in der Ausgabe Nr. 9 (Saison 2022/23) der Matchzeitung HEIMSPIEL gegen den Yverdon Sport FC erschienen.