In seinem Roman «Der Goalie ben ig» erzählt Pedro Lenz von einem jungen Mann, der die Schuld für alle Missgeschicke in seinem Freundeskreis auf sich nimmt, um andere zu beschützen. Er fühlt sich wie ein Goalie im Fussball, der für alle Gegentore verantwortlich sei, und wird deshalb von allen nur noch «Goalie» gerufen. Tatsächlich ist Torhüter ein Posten, der nicht von allen Fussballern als Lieblingsposition bezeichnet wird. Viel Ruhm gibt es meistens nicht zu gewinnen, in den Spielzusammenfassungen werden tolle Zuspiele oder auch mehr oder weniger gelungene Abschlüsse gezeigt. Ein Fehlschuss wird einem Stürmer meistens schnell verziehen, wohingegen ein Fehler des Goalies meistens einen gegnerischen Treffer zur Folge hat. Aber ein Goalie kann auch einen entscheidenden Anteil am Erfolg einer Mannschaft haben, und so schaffen es denn doch ab und zu grosse Paraden in die Spielzusammenfassungen.
«Ich wollte Goalie werden und habe es auch geschafft.»
Einer, der von Anfang an Goalie werden wollte, ist Andreas Hirzel. Bereits als kleiner Bub, als er mit seinen drei älteren Brüdern im Garten auf ein vom Vater zusammengebautes Tor spielte, stellte er sich freiwillig zwischen die Pfosten und wehrte die Bälle seiner Geschwister ab.
Etwas später, als er sich den Junioren des FC Urdorf anschloss, setzte er sich gegen die durchaus vorhandene Konkurrenz auf dem Goalieposten durch. «Ich gehörte nicht zu den Jungs, die ins Goal gestellt wurden, weil sie einfach sehr gross oder technisch limitiert waren», erinnert sich Andreas Hirzel im Gespräch. «Ich wollte Goalie werden und habe es auch geschafft.» Über seinen Vater lernte Andreas den Goalietrainer Willy Weber kennen, der damals beim FC Aarau angestellt war und in Zürich eine Goalieschule führte. Einmal wöchentlich trainierte er von da an im Hardhof, und bald zeigte sich, dass da viel Talent vorhanden war. Ein Wechsel zu den Grasshoppers zerschlug sich, weil er dann mit dem GC-Goalietrainer hätte arbeiten müssen. So kam Hirzel zur U11 des FC Aarau, wo er sich kontinuierlich nach oben arbeitete. Sämtliche Stationen des Nachwuchs-Leistungsfussballs durchlief er, bis er zu den ersten Trainings der 1. Mannschaft aufgeboten wurde.
Von Zofingen zu den Grasshoppers
Mit 18 Jahren wechselte Andreas Hirzel leihweise zum SC Zofingen, wo der ehemalige FCA-Verteidiger Mirko Pavlicevic Trainer war. Er sollte Spielpraxis sammeln und weitere Fortschritte machen. «Ein Wechsel zum FC Baden stand ebenfalls im Raum, doch dort war Cyrill Schneider eine fixe Grösse im Goal, an ihm war kaum vorbeizukommen», erinnert sich Hirzel. «In Zofingen war ich hingegen Stammgoalie und bestritt fast alle Spiele der Saison 2011/12.» Nach dieser Saison im Thutstädtchen wäre eine Rückkehr nach Aarau geplant gewesen, doch dann meldeten sich die Grasshoppers, die einen Goalie für die U21-Mannschaft suchten.
Nach diesem Abstecher nach Zürich ging es ziemlich turbulent weiter. Der FC Aarau war in die Super League aufgestiegen und hatte mit Joël Mall und Swen König bereits zwei Torhüter. So wurde Hirzel erneut ausgeliehen, diesmal nach Baden, wo er den Aufstieg gegen Xamax nur knapp verpasste. Danach lief sein Vertrag mit dem FC Aarau aus, und er wechselte nach Vaduz, wo damals wie heute Sebastian Selke die Goalies trainierte. Dieser wiederum kannte Stefan Wächter, den Goalietrainer des Hamburger SV. «Sebastian empfahl mich Stefan, der Sportchef Peter Knäbel kontaktierte mich – und eine solche Chance durfte ich nicht ungenutzt verstreichen lassen. So landete ich beim damaligen Dinosaurier der Bundesliga. Ich schloss mich dem HSV an, der im Trainingslager in Flims/Laax weilte, und kam bereits am ersten Tag im Testspiel gegen Arminia Bielefeld zum Einsatz. In der Vorbereitung auf die Saison 2015/16 bestritt ich insgesamt vier Partien.»
Gerne erinnert er sich an die Bundesliga-Eröffnungspartie am 14. August 2015 in der Allianz Arena gegen den Rekordmeister FC Bayern München. «Es war ein grossartiges Erlebnis, auch wenn wir am Ende 0:5 verloren haben. Ich sass zwar 90 Minuten auf der Bank, aber die ganze Stimmung konnte ich schon geniessen.»
«Da hat man keine Zeit, nervös zu werden, man ist wie in einem Tunnel und funktioniert einfach.»
Bereits in der dritten Runde beim 1. FC Köln kam Andreas Hirzel dann zu seinem Bundesliga-Debüt. Stammgoalie René Adler hatte sich eine Verletzung zugezogen. «Zunächst wurde ich zum Aufwärmen geschickt, und nach einigen Minuten kam Stefan Wächter auf mich zu. Ich dachte, er wolle mir mitteilen, dass ich mich wieder setzen könne, weil die Verletzung doch nicht so schlimm sei. Aber er sagte mir, ich solle mich bereit machen für den Wechsel. Da hat man keine Zeit, nervös zu werden, man ist wie in einem Tunnel und funktioniert einfach.» Die 1:2-Niederlage blieb sein einziger Einsatz in der Bundesliga. In den folgenden Spielen hütete Jaroslav Drobny den HSV-Kasten.
Die Resultate des Hamburger SV verfolgt er auch heute noch, und er wünscht seinem ehemaligen Club, dass er endlich wieder in die Bundesliga zurückkehrt. «Es ist aber nicht so, dass ich alle Spiele live im Fernsehen mitverfolge. Wenn ich nicht mit dem FC Aarau unterwegs bin, freue ich mich, möglichst viel Zeit mit meiner Frau und meinen drei Kindern verbringen zu dürfen.»
Challenge League statt Super League
Während seiner drei Jahre im Norden Deutschlands blieb der Kontakt zu Sebastian Selke und dem heutigen Vaduz-Sportchef Franz Burgmeier immer bestehen, und als der Vertrag bei den Hansestädtern auslief, bahnte sich ein Wechsel zu den Liechtensteinern an. «Ich freute mich auf die Rückkehr, denn ich wollte wieder regelmässig spielen und hatte sehr gute Erinnerungen an meine Zeit in Vaduz. Während der Saison 2018/19 entstanden dann erste Kontakte zum FC Thun. In Vaduz brach natürlich nicht die grosse Begeisterung aus, aber sie wollten mir auch keine Steine in den Weg legen, wenn ich anstatt in der Challenge League in der Super League spielen konnte. Das Verständnis war absolut vorhanden, und ich wechselte nach Thun.» Das Schicksal wollte es dann, dass die Berner Oberländer ausgerechnet in Hirzels erster Saison am Thunersee gegen die Vaduzer in der Barrage 2020 antreten mussten und das Duell auch prompt verloren und den Gang in die zweithöchste Liga antreten mussten.
Nach all diesen Wechseln kam nun langsam die Zeit, in der Andreas Hirzel etwas mehr Ruhe in sein Leben bringen wollte. Da auch die Kontakte zum FC Aarau über die ganze Zeit nie komplett abgerissen waren, bot es sich an, irgendwann einmal zurück ins Brügglifeld zu kommen. Nachdem ein erster Versuch nicht geklappt hatte, wurde es auf diese Saison hin konkret. Hirzel wechselte als Goalie Nummer 2 zum FCA und windet den Verantwortlichen ein Kränzchen: «Sie waren von Anfang an ehrlich und teilten mir mit, dass Marvin vom FC Baden als Nummer 1 vorgesehen sei. Das habe ich sehr geschätzt, denn damit wusste ich, worauf ich mich einliess. Es ist wichtig, wenn ein ambitionierter Club einen erfahrenen zweiten Goalie hat, der die Nummer 1 unterstützt und bereit ist, wenn er gebraucht wird. Bisher hat Marvin allerdings seine Sache so gut gemacht, dass es keinen Anlass gibt, ihn nicht spielen zu lassen.»
«Dietikon ist meine Heimat. Und dort mein Pflichtspieldebüt für den FCA zu geben, war sehr schön.»
Trotzdem durfte Andi einmal in einem Wettbewerbsspiel auflaufen, und zwar in einem ganz besonderen. Im Schweizer Cup traf der FC Aarau in der ersten Runde auf den FC Dietikon. «Ein ganz spezielles Spiel für mich», schwärmt er. «Dietikon ist meine Heimat. Ich bin zwar in Urdorf aufgewachsen, aber meine Eltern kommen aus Dietikon. Und dort mein Pflichtspieldebüt für den FCA zu geben, war sehr schön. Auch wenn es kein einfaches Spiel war, haben wir gewonnen und uns für die nächste Runde qualifiziert. Aber die eine Situation, als ein gegnerischer Spieler völlig alleine vor mir auftauchte und zum Glück für uns beim Schussversuch in den Boden trat, war schon sehr heikel.» Das sei auch die grosse Herausforderung des Torhüters, ergänzt er: Da sei man die längste Zeit weit weg vom Geschehen, habe nichts zu tun, und plötzlich müsse man voll und ganz da sein. Das gilt natürlich auch für den Moment, wenn man, wie Hirzel in Köln, innert weniger Minuten für eine Einwechslung bereit sein muss.
Nun ist Andreas Hirzel also in der Region Aarau sesshaft geworden. Er ist genug umgezogen und plant keinen weiteren Wechsel mehr. «Das will ich meiner Familie nicht mehr zumuten. Meine Kinder werden grösser und sollen nicht dauernd die Schule wechseln müssen.» Trotzdem möchte er dem Fussball erhalten bleiben. Er bildet sich im Trainerbereich weiter und möchte später einmal in die Fussstapfen von Willy Weber treten und Goalies ausbilden. Bereits heute achtet er darauf, wie Trainings gestaltet werden, und er betreut die Goalies der Aarauer Nachwuchsmannschaften. Ein Goalie bleibt ein Goalie.
Matchzeitung Nr. 13 (2023/24) lesen
Dieser Artikel ist am 1. März 2024 in der Ausgabe Nr. 13 (Saison 2023/24) der Matchzeitung HEIMSPIEL gegen den Neuchâtel Xamax FCS erschienen.